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Warum konnte das Orkantief «Ciarán» so stark werden?

MeteoSchweiz-Blog | 02. November 2023
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«Ciarán» lag am Donnerstagmorgen als Orkantief mit einem Kerndruck von unter 955 hPa über dem Süden Englands. An seiner Südflanke tobten über dem Nordwesten Frankreichs und rund um den Ärmelkanal Orkanböen von über 150 km/h. Auch die Schweiz bekam «Ciarán» abgeschwächt zu spüren. Wie konnte das Tief so schnell so stark werden?

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Böenspitzen über 150 km/h

«Ciarán» traf als ausgewachsenes Orkantief den Nordwesten Frankreichs und die Regionen rund um den Ärmelkanal. An zahlreichen Orten wurden Windböen um 150 km/h gemessen, an einigen Messstationen wurden neue Windrekorde aufgestellt, z.B. in Brest mit 156 km/h. In einzelnen exponierten Lagen an der Atlantikküste gab es sogar Orkanböen um 200 km/h (Pointe du Raz). Die explosive Entwicklung zum Orkantief haben die Prognosemodelle im Allgemeinen gut und vor allem frühzeitig einige Tage im Voraus erfasst. Wir gingen in diesem Blog Ende Oktober bereits darauf ein.

Aussergewöhnlich tiefer Luftdruck

Laut Prognosemodellen und Bodenanalysen lag der Kerndruck des Orkantiefs am Donnerstagmorgen unter 955 hPa. Das ist selbst für die tiefdruckerfahrenen Regionen Nordwesteuropas ein aussergewöhnlich tiefer Luftdruck, vor allem für Anfang November so früh in der Sturmtiefsaison. Dementsprechend gross ist auch die Abweichung zum gewöhnlichen Luftdruck:

Wie konnte der Luftdruck so schnell so stark sinken?

Innerhalb von nur einem Tag ist der Luftdruck im Zentrum von «Ciarán» von rund 990 hPa auf unter 960 hPa gesunken. Der rasche Abfall des Luftdrucks hat viel mit der Dynamik des Jetstreams weit über unseren Köpfen in der oberen Troposphäre zu tun. Bereits gestern wurde der Polarfrontjet im Blog ausführlich vorgestellt. Um die Entwicklung zum Orkantief zu verstehen, gehen wir einen Schritt weiter.

Geostrophisch und ageostrophisch

In einem früheren Blog wurde der geostrophische Wind beschrieben. Beim geostrophischen Gleichgewicht ist die Strömung in der Atmosphäre perfekt ausbalanciert. Mit anderen Worten: Hier passiert nicht viel, schon gar nicht «viel Wetter». Daher ist diese Beschreibung physikalisch einfach, aber für hochdynamische Wetterlagen ungeeignet. Dann kommen die so genannten ageostrophischen Windkomponenten ins Spiel, die letztlich für die dynamischen, sich ändernden Wetterprozesse verantwortlich sind, wie z.B. der Wechsel von Hoch- und Tiefdruckgebieten in unseren mittleren Breiten, die Veränderungen des Druckfeldes in verschiedenen Höhen, die Verstärkung und Abschwächung von Frontensystemen, die damit verbundenen vertikalen Luftbewegungen, und so weiter…

Ageostrophie im Bereich eines Jetstreams

Auch im Bereich eines Jetstreams in der oberen Troposphäre ist die Strömung alles andere als ausbalanciert. Im Gegenteil. Vor allem an den Rändern eines Jetstream-Maximums (Jetstreak) ist das Strömungsfeld stark unausgeglichen. Eine ageostrophische Querzirkulation (nicht in West-Ost-Richtung des Jetstreams) versucht nun, diese Ungleichgewichte wieder auszugleichen. Das bleibt nicht ohne Folgen.

Betrachtet man einen idealisierten Jetstream in West-Ost-Richtung, so gibt es im Eingang eines Jetstream-Maximums (Jetstreak) eine nordwärts gerichtete, im Ausgang dagegen eine südwärts gerichtete ageostrophische Strömung. Mit dieser Windkomponente wird, bildlich gesprochen, im linken Jetausgang Luft weggeschoben und in Richtung des rechten Jetausgangs transportiert. Anders ausgedrückt: Die Luft strömt im linken Jetausgang auseinander (Divergenz), es wird also in der oberen Troposphäre Luft aus der vertikalen Luftsäule evakuiert und es kommt zu einem Massenverlust. Da der Luftdruck, den wir auf Meereshöhe messen, nichts anderes ist als das Eigengewicht der darüber liegenden Luftsäule, sinkt nun der Luftdruck am Boden. Da die Windgeschwindigkeiten am Jet und dementsprechend auch die ageostrophische Strömungen gross sind, wird entsprechend viel Luft aus der Luftsäule evakuiert und der Luftdruck fällt unter dem linken Ausgang eines starken Jetstreaks rapide.

Die Divergenz im linken Jetausgang bleibt wiederum nicht ohne Folgen. Da sich das Wetter dreidimensional abspielt, kommt es unterhalb der Divergenz zum Ausgleich zu aufsteigenden Luftbewegungen und Hebungsvorgängen. Sie sind mitverantwortlich für das wolkenreiche und unbeständige Wetter im Bereich der dort angesiedelten Tiefdruckgebiete. Schliesslich induzieren die Aufwärtsbewegungen am Boden das Nachströmen der umgebenden Luft. Dies ist das bodennahe Zusammenströmen der Luft (Konvergenz) im Bereich von Tiefdruckgebieten. Durch die bodennahe (schwächere) Konvergenz wird zwar ein Teil der oben evakuierten Luftmasse wieder ersetzt. Da aber die (deutlich stärkere) Divergenz und der Massenverlust auf Jetniveau überwiegt, bleibt unter dem Strich ein Massenverlust und der Luftdruck am Boden fällt.

Linker Jetausgang entscheidend

Aus den Erklärungen wird deutlich, dass starke Tiefdruckentwicklungen in den mittleren Breiten massgeblich von den Starkwindbändern in der Höhe gesteuert werden. Im Jeteingang verhalten sich die ageostrophischen Strömungen spiegelbildlich, am effektivsten sind die Prozesse im beschriebenen linken Jetausgang. Gelangt nun ein noch junges Tiefdruckgebiet unter den linken Ausgang eines idealerweise kräftigen Jetstreams, so setzt massiver Druckfall ein und es kann zu rapiden Zyklogenesen bis hin zu starken Orkantiefs kommen. Genau dies war in den letzten beiden Tagen bei «Ciarán» der Fall.

Auswirkungen in der Schweiz

In abgeschwächter Form war das Orkantief auch in der Schweiz zu spüren. Nach einem Südföhnstoss (Böenspitzen bis 114 km/h in Meiringen) breitete sich von Westen her die Kaltfront aus. Im Übergangsbereich zwischen Föhn und Kaltfront zeigte sich auf dem Niederschlagsradar eine für diese Wetterlage typische Niederschlagsverteilung mit einem bereits nassen Westen und Süden und einem noch trockenen Föhndreieck im Osten und Nordosten. Bis Freitag halten die Niederschläge an, die Schneefallgrenze sinkt und in den zentralen und südöstlichen Alpen gibt es in höheren Lagen nennenswerten Schneezuwachs.