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Extreme Böenspitze bei Gewitter in La Chaux-de-Fonds: Chronik der Bewertung

MeteoSchweiz-Blog | 29. April 2024
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Am 24. Juli 2023 wurde beim Durchzug eines heftigen Gewitters, das über La Chaux-de-Fonds hinwegfegte, eine maximale Böenspitze von 217,4 km/h gemessen. Ein derart hoher Wert wurde in der Schweiz ausserhalb von exponierten Lagen in den Alpen noch nie gemessen. Wie in einem Gerichtsfall mussten verschiedene Indizien gesammelt und ausgewertet werden, um die Genauigkeit und Plausibilität dieser Messung zu überprüfen. Dieser Blogartikel beschreibt die einzelnen Schritte dieses Prozesses.

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Am 24. Juli 2023 verursachte ein verheerendes Gewitter in der Region von La Chaux-de-Fonds heftige Windböen und schwere Schäden. In der Zwischenzeit wurde das Ereignis vertieft unter verschiedenen Gesichtspunkten analysiert, die Resultate wurden unter anderem in einem Arbeitsbericht von MeteoSchweiz (französisch) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Die maximale Böenspitze von 217.4 km/h, die an unserer Station auf dem Flughafen Les Eplatures gemessen wurde, hat zahlreiche Reaktionen ausgelöst: Ist dieser Wert glaubwürdig? Um die Plausibilität dieser Messung zu überprüfen, ist MeteoSchweiz diesem Wert nachgegangen und hat verschiedene Fragen beantwortet:

Passen die Wetterlage und der Ereignisablauf zum gemessenen Wert? Ja!

Für diese Frage machen wir es uns hier einfach und verweisen auf den Blog vom 23. April zur Charakterisierung des verheerenden Windereignisses.

Kurz: ja – die Wetterlage passt ins Bild.

Allein die aufgetretenen Schäden sprechen Bände (siehe Abbildung 1) und lassen gewisse Rückschlüsse auf die Windstärke zu.

Auch diese Bilder zeigen die Wucht des Unwetters: Ein umstürzender Anhänger eines Sattelschleppers hat eine Friedhofsmauer und mehrere Grabsteine in unmittelbarer Nähe der SwissMetNet-Station umgedrückt – deren Mast der Windmessung am rechten Bildrand zu sehen ist.

Zeigen sich Auffälligkeiten bei der operationellen Datenkontrolle? Nein – aber es bleiben offene Fragen.

Kurz nachdem die Messungen unserer SwissMetNet-Stationen auf dem Data Warehouse (DWH), dem zentralen System zur Speicherung, Prozessierung und Weiterverarbeitung von meteorologischen Daten von MeteoSchweiz verfügbar sind, durchlaufen Messdaten im Rahmen der operationellen Datenkontrolle automatisch mehrere Prüfstufen. Werden dabei definierte Kriterien verletzt, so werden diese Werte durch die Fachleute der internen Datenqualitätskontrolle überprüft und falls notwendig bearbeitet. Für die Aussergewöhnlichkeit der gemessenen Böe in La Chaux-de-Fonds wurden verhältnismässig wenige verdächtige Werte identifiziert, welche manuell zu überprüfen waren. Der zeitliche Verlauf aller Messgrössen von La Chaux-de-Fonds wie auch der Vergleich aller Messgrössen untereinander (passt zum Beispiel der Verlauf Windmessung zum Verlauf von Luftdruck, Niederschlag oder zur Anzahl der registrierten Nahblitze?) waren konsistent und plausibel. Es traten weder Ausreisser an einzelnen Zeitschritten noch verdächtige Lücken vor oder nach dem Ereignis auf.

Auch in der Vergangenheit war das Windmessgerät in La Chaux-de-Fonds bei der Datenkontrolle nie auffällig in Erscheinung getreten.

Weil es sich mit grossem Abstand um den höchsten Messwert seit Beginn der automatischen Messungen gehandelt hat, wurde schnell klar, dass eine vertiefte Betrachtung dieses Wertes notwendig ist.

Ist die Station vorschriftsgemäss aufgestellt und gewartet? Ja, aber ein paar Hindernisse stören den Wind.

Die Messstationen von MeteoSchweiz werden gemäss den Vorschriften der World Meteorological Organisation aufgestellt. Die Einhaltung dieser Vorgaben wird in regelmässigen Abständen durch die unabhängige Bewertungsstelle METAS-cert überprüft. Für die Station La Chaux-de-Fonds erfolgte diese Zertifizierung letztmals im September 2021. Die Windmessung wurde dabei als «compliant» (=konform mit den Vorgaben) beurteilt. Weil sich gut 25 m südlich der Station auf leicht abfallendem Gelände der oben erwähnte Friedhof mit einigen Bäumen befindet, wurde die Maximal-Bewertung «fully compliant» nicht erteilt. Zum Zeitpunkt der Böenspitze hat der Wind aus Richtung dieser Hindernisse geweht.

Grundsätzlich wirkt sich eine solche erhöhte Oberflächenrauhigkeit jedoch eher dämpfend auf Böenspitzen aus.

Wie wird die Windgeschwindigkeit an der Station genau gemessen? Das ist die Krux an der Sache…

An der Station wird ein Schalenkreuzanemometer des Typs Lambrecht 14512 eingesetzt. Weder bei der wöchentlichen Wartung (vorgenommen durch die Betreiberin des Flugplatzes) noch beim jährlichen Unterhalt durch die Techniker von MeteoSchweiz haben sich Auffälligkeiten bei der Windmessung gezeigt.

Das Messprinzip eines Schalenkreuzanemometers ist grundsätzlich denkbar einfach: Je schneller das Schalenkreuz dreht, desto höher ist die Windgeschwindigkeit. Bei sehr geringen Windgeschwindigkeiten (<0.2 m/s) kann die Reibung dazu führen, dass zu tiefe Windgeschwindigkeiten angezeigt werden. Oberhalb dieser Anlaufgeschwindigkeit passen die Drehgeschwindigkeit und die abgeleitete Windgeschwindigkeit grundsätzlich sehr gut zusammen: man spricht von einer hohen Linearität. Sehr kurze Windspitzen sind in der Natur stärker als sie vom Schalenkreuzanemometer erfasst werden. (Quelle: Meteorologische Bodenmesstechnik - Leitfäden für die Ausbildung im Deutschen Wetterdienst).

Der Hersteller spezifiziert die obere Grenze des kalibrierten Messbereiches bei diesem Gerätetyp bei 35 m/s (126 km/h), wobei die Genauigkeit ±2% von 35 m/s (±0.7 m/s) beträgt. Zusätzlich wird angegeben, dass die Anwendung des Gerätes bis zu Windgeschwindigkeiten von 60 m/s (216 km/h) möglich ist. Das heisst, dass das Messgerät bis zu diesem Grenzwert grundsätzlich funktionsfähig ist (Stichwort: die oben erwähnte hohe Linearität) - ohne, dass dies jedoch durch eine Kalibrierung gezeigt worden ist.

Die maximale gemessene 1-Sekunden-Böenspitze liegt mit 60.4 m/s somit knapp ausserhalb des Anwendungsbereiches von 60 m/s. Also: ab in den Windkanal mit dem Messgerät! So könnte man prüfen, wie genau das Messgerät bei einer Windgeschwindigkeit von 60 oder 65 m/s funktioniert. Leider ist die Sache nicht ganz so einfach:

  • Grundsätzlich scheitert es bereits bei der Verfügbarkeit von akkreditierten Anlagen, welche auf Geschwindigkeiten von über 60 m/s ausgelegt sind. METAS oder der Deutsche Wetterdienst verfügen zum Beispiel über Anlagen, welche Strömungen bis 50 m/s erzeugen können.
  • In einem Windkanal können laminare (ruhige, gleichmässige) Strömungen erzeugt werden. Der Gewittersturm von La Chaux-de-Fonds war jedoch das pure Gegenteil: innerhalb von Sekunden haben Windgeschwindigkeit und -richtung stark variiert, man spricht hier von einer turbulenten Strömung bzw. einer hohen Böigkeit.

Unabhängig von der Verfügbarkeit einer Anlage hätten also die realen Verhältnisse in einem Windkanal nicht nachgestellt werden können, der Erkenntnisgewinn wäre bescheiden geblieben.

Fall erledigt und Messwert ungültig? Nein, zum Glück gibt es in diesem Fall noch weitere Informationsquellen, um die Plausibilität des Wertes zu beurteilen.

Stützen ergänzende Messungen und Beobachtungen den Messwert? Ja, viele Puzzlesteine stützen den Wert.

Das Schalenkreuzanemometer sendet jede Sekunde ein Signal aus. Normalerweise werden an SwissMetNet-Stationen diese 1-Sekunden-Daten zu 10 Minuten-Werten zusammengefasst (z.B. höchste 1 Sekunden-Böenspitze über 10 Minuten, mittlere Windgeschwindigkeit über 10 Minuten) und ans Data Warehouse übermittelt.

Weil die Station in La Chaux-de-Fonds für die Betreiberin des Flughafens La Chaux-de-Fonds sowie für SkyGuide höhere Anforderungen erfüllen muss, werden hier die Messwerte zusätzlich in einer Auflösung von 3 Sekunden verarbeitet und gespeichert. Es liegt somit eine kontinuierliche Datenreihe von 3-Sekunden-Mittelwerten des Windes vor.

Ebenfalls für den Betrieb des Flughafens betreibt MeteoSchweiz auf dem Tower sowie auf dem Mont-Cornu im Osten der Stadt La Chaux-de-Fonds weitere Windmessungen, die in Abbildung 3 unten dargestellt sind.

Die zeitlich hochaufgelöst gespeicherten Daten der SwissMetNet-Station liefern einen entscheidenden Mehrwert: es liegen mehrere 3-Sekunden-Werte über 50 m/s vor und just zum Zeitpunkt der maximalen Böenspitze springt die Windrichtung von Süd auf Südwest.

Leider können die Stationen auf dem gut 380 m entfernten Tower die maximale Böenspitze an der SwissMetNet-Station nicht direkt bestätigen: Die Geräte sind hier zeitweise ausgefallen, es wurden aber 3-Sekunden-Böenspitzen von 140 bzw. 144 km/h registriert. Vom knapp 6 km entfernten Mont Cornu liegt eine kontinuierliche Aufzeichnung vor: Die maximale Böenspitze über 3 Sekunden beträgt hier immer noch bemerkenswerte 165 km/h.

Nun stellt sich natürlich die Frage, weshalb gleich beide Messgeräte auf dem Tower im interessantesten Zeitbereich ausgefallen sind. Glücklicherweise liegt eine Videosequenz vor, welche aus dem Tower des Flughafens aufgenommen wurde (die beiden Ultraschallanemometer befinden sich direkt über dem Aufnahmeort).

Videosequenz der Ankunft des Gewitters, gefilmt vom Tower des Flughafens Les Eplatures. Quelle: https://vimeo.com/847984284

Die Kamera blickt in Richtung des aufziehenden Unwetters. Direkt hinter dem markanten Mast links der Bildmitte ist die SwissMetNet-Station zu erkennen.

Der sehr rasch voranschreitende Aufzug des Unwetters ist gut zu erkennen. Schnell wird die SwissMetNet-Station durch den von links aus Richtung Süden heranwehenden Niederschlagsvorhang verhüllt. Wenig später erreicht dieser den Tower und es wird zunehmend Material (sichtbar sind abgebrochene Äste) durch die Luft gewirbelt.

Dieses mitgeführte Material hat mit grosser Wahrscheinlichkeit dazu geführt, dass beide Windmessgeräte auf dem Tower (gelbe und rote Kurven auf der Verlaufsgraphik) zum Zeitpunkt der maximalen Böenspitze ausgefallen sind bzw. vom Messgerät als unbrauchbar taxiert wurden.

Fazit zur Plausibilität des Messwertes

Die Zusammenschau aller Informationen ergibt folgenden Befund:

Die maximale 1-Sekunden-Böenspitze von 60.4 m/s an der SwissMetNet-Station wurde durch ein Schalenkreuzanemometer Typ 14152 der Firma Lambrecht aufgezeichnet. Dieser Wert liegt ausserhalb des Kalibrationsbereiches von 0 bis 35 m/s sowie knapp ausserhalb des Einsatzbereiches von 0 bis 60 m/s.

Alle anderen Umstände sprechen jedoch dafür, diesen Messwert dennoch als plausibel und gültig zu betrachten:

  • Das Potential für starke Gewitter mit Sturmböen war aufgrund der Wetterlage vorhanden.
  • Sowohl die Anwendung der „International Fujita Scale (englisch)“ zur Beurteilung von Tornado- und Windschäden als auch die „Skala D“ von Keraunos für Downbursts (französisch) erlauben die Abschätzung einer Grössenordnung der Windspitzen, welche die in La Chaux-de-Fonds aufgetretenen Schäden verursacht haben. Diese Schätzungen bestätigen die registrierte maximale Böenspitze der SwissMetNet-Station.
  • Die verschiedenen Messgrössen der SwissMetNet-Station passen zueinander und zeigen keine Auffälligkeiten.
  • Die Aufstellung der Station entspricht den Vorgaben der WMO und ist gut gewartet. Es gibt zwar Hindernisse stromaufwärts zur Windrichtung während der Böenspitze – diese hatten jedoch einen eher dämpfenden Einfluss.
  • Der zeitlich hochaufgelöste Verlauf der Windparameter erreicht mehrfach 3-Sekunden-Werte von über 50 m/s.
  • Ergänzende Windmessungen auf dem Tower liefern nur einen unteren Grenzwert und sind zum Zeitpunkt der maximalen Böenspitze ausgefallen. Das wird durch eine Video-Sequenz bestätigt.

Kurz: Es gibt keine bessere Näherung an die Realität als die vorliegende Messung. Der Wert wird bestätigt und in der Datenbank beibehalten. Er steht damit für klimatologische Auswertungen zur Verfügung.

Wie ist die Böenspitze im zeitlichen und räumlichen Kontext einzuordnen? Stationsrekord – aber kein Schweizer Rekord

Die Reihe hochaufgelöster Windmessungen in La Chaux-de-Fonds wurde für den Zeitraum 1982 - 2022 ausgewertet: in diesem Zeitraum sind nie auch nur annähernd ähnlich hohe Böenspitzen aufgetreten. Der Höchstwert von knapp 135 km/h wurde am 26.12.1999 im Zuge des Orkantiefs Lothar registriert. Eine statistische Extremwertanalyse dieser Messreihe schätzt eine Wiederkehrperiode von deutlich über 300 Jahren ab.

Über das gesamte automatische Messnetz von MeteoSchweiz wurden seit 1982 nur an fünf exponierten, alpinen Gipfel- bzw. Passstationen höhere Werte als in La Chaux-de-Fonds gemessen:

Gewitter und die dabei auftretenden Böen haben typischerweise eine sehr viel geringere Ausdehnung als winterliche Orkantiefs. Die Wahrscheinlichkeit ist daher sehr gross, dass extreme Böenspitzen durch die Maschen des Messnetzes fallen und nicht registriert werden. Aus diesem Grund ist die Aussagekraft von räumlichen Vergleichen und Zeitreihenanalysen zu gemessenen Böenspitzen bei konvektiven Ereignissen eng begrenzt.

Historische Aufzeichnungen zu Tornados im Neuenburger Jura (z.B. in La Chaux-de-Fonds am 12.06.1926 und 23.08.1934 oder in Malvilliers am 18.06.1951) mit teils grossen Schäden lassen darauf schliessen, dass in der Region in der Vergangenheit schon extreme Böen aufgetreten sind.

Darüber hinaus ereigneten sich im Vallée de Joux am 19.08.1890 und am 26.08.1971 auch zwei grössere Tornado-Ereignisse mit maximalen Windgeschwindigkeiten, die nach der Fujita-Skala auf 333 bis 418 km/h geschätzt wurden. Dies zeigt, dass dort in der Vergangenheit bereits lokal begrenzte konvektive Windereignisse aufgetreten sind, die noch stärker waren als das in La Chaux-de-Fonds.