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Was bedeutet die Umstellung auf ICON für den Alltag bei MeteoSchweiz?

MeteoSchweiz-Blog | 25. Juni 2024
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Das Wetter- und Klimamodell ICON wird neu für die Wettervorhersagen der MeteoSchweiz eingesetzt. Was bedeutet der Umstieg auf das neue Modell für den Alltag bei MeteoSchweiz? Von den Veränderungen erzählen Oliver Fuhrer, der mit seinem Team für die Entwicklung und den Betrieb des Systems zuständig ist, sowie Adrien Michel, der als Meteorologe in der Wetterzentrale Genf arbeitet.

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Oliver Fuhrer ist als Leiter der Abteilung Numerische Vorhersage zuständig für die Entwicklung und den Betrieb des neuen Wetter- und Klimamodells ICON bei MeteoSchweiz. Er bricht die Umstellung vom Vorgängermodell COSMO zum neuen Modell auf eine einfache Rechnung hinunter: «Bisher hatten wir eine halbe Million Zeilen Software in Betrieb. Jetzt arbeiten wir mit zwei Millionen Zeilen einer neuen Software.» Die Umstellung habe von seinem Team einen grossen Know-How-Aufbau erfordert. «Wir kannten COSMO wie unsere Westentasche, jetzt mussten wir ein neues System kennenlernen und anpassen, um unsere massgeschneiderten Produkte auszuliefern», erklärt Fuhrer am Hauptsitz von MeteoSchweiz am Flughafen Kloten.

Nach einer Testphase laufen das Vorgängermodell COSMO und ICON über zwei Monate hinweg parallel mit voller Rechenleistung. In dieser Zeit müssen alle Dienstleistungen, die MeteoSchweiz anbietet, auf das neue Modell übertragen werden. Nun wird COSMO bald eingestellt. «Diesen alten Zopf abzuschneiden, wird für uns eine grosse Erleichterung sein», sagt Fuhrer.

Ein besseres Modell für die Schweizer Topographie

Fuhrer streicht die neuen Möglichkeiten des Modells heraus: Während das Vorgängermodell COSMO die Messdaten aufgrund eines rechteckigen Rechengitters hochrechnete, arbeitet ICON mit einem Dreiecksgitter, das die Topografie der Schweiz besser erfassen kann. «Das erlaubt uns, Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Wind an der Erdoberfläche genauer zu modellieren, was die Prognosen verbessern kann», so Fuhrer. Zudem könnten dank dem sogenannten Nesting künftig bestimmte Gebiete gezielt mit höherer Auflösung gerechnet werden, etwa ein Gebiet über den Alpen oder in einem Bergtal oder am Flughafen.

Eine für Fuhrer wichtige Neuerung ist auch, dass sowohl der Code als auch die Daten des ICON-Modells Open Source und damit öffentlich zugänglich sind. Damit ändert sich auch die Rolle von Fuhrers Team. Während MeteoSchweiz bis anhin Daten und Dienstleistungen anbot, wird mit ICON auch die Methode mitgeliefert. «Wir könnten in Zukunft vermehrt Beratungsdienstleistungen anbieten für Kundinnen und Kunden, die das Modell oder Modelldaten selbst einsetzen», erklärt Fuhrer. «Damit werden wir künftig einen grösseren Nutzen stiften können», ist Fuhrer überzeugt.

Mit der Einführung von ICON beginnt die Reise mit dem neuen Modell gemäss Fuhrer erst richtig. Denn das in einer internationalen Zusammenarbeit entwickelte und von Wetterdiensten in verschiedenen europäischen Ländern genutzte Klima- und Wettermodell wird laufend weiterentwickelt, auch in Bereichen, die für die Schweiz wichtiger sind als für andere Länder. Als Beispiel nennt Fuhrer eine Entwicklung des Systems, das die Modellierung und Vorhersage der Schneedecke verbessern soll. Für die Schweiz ist dies eine wichtige Grösse, weil die Frage, ob an einer Stelle aktuell Schnee liegt oder nicht, Auswirkungen auf weitere Grössen wie die Sonneneinstrahlung und Temperatur hat.

Mit dem Umstieg auf das ICON Modell verändert sich auch die Partnerlandschaft der Entwickler. Während MeteoSchweiz im Rahmen des COSMO-Konsortiums primär mit der ETH sowie mit nationalen Wetterdiensten zusammenarbeitete, erweitert sich mit ICON die Zusammenarbeit um weitere Forschungsinstitutionen wie dem Max-Planck-Institut für Meteorologie oder dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT). «Während Wetterdienste stabilen Betrieb und zuverlässige Prognosen priorisieren, streben Forschungsinstitutionen nach innovativen und experimentellen Lösungen», erläutert Fuhrer. «Dies schafft einen interessanten und kreativen Entwicklungsprozess, der derzeit in vollem Gange ist.»

Die Grenzen des neuen Modells kennenlernen

Ortswechsel in die Wetterzentrale Genf, wo die Wetterprognosen für die Romandie erstellt werden. In den drei Wetterzentralen von MeteoSchweiz arbeiten die Meteorologinnen und Meteorologen rund um die Uhr, mit klar getakteten Aufgaben. Ob für ein Flugwetterdienstleistung für den Flughafen oder die Formulierung der Wetterprognose für die App: Immer geht es darum, aufgrund des Outputs der Modellrechnungen Entscheidungen zu treffen. Adrien Michel, der an diesem Morgen als Meteorologe arbeitet, zeigt seinen Bildschirm, auf dem elf verschiedene Szenarien für den erwarteten Niederschlag über der Schweiz erscheinen. Die elf vom Modell errechnete Zukunftsszenarien unterscheiden sich stark. Ein Teil deutet auf Regen hin, der andere zeigt einen vorwiegend trockenen Tag. Wird es nun regnen oder nicht? «Unsere Aufgabe ist es, diese Unsicherheit in etwas Verständliches zu übersetzen», sagt Michel.

Sein Arbeitsalltag ändert sich mit der Umstellung auf das neue Modell kaum. Michel arbeitet weiterhin mit den gleichen Tools. Die Modellrechnungen, aufgrund derer er die schriftlichen Wetterprognosen erstellt oder entscheidet, ob er eine Warnung herausgeben muss, sind wie früher aufgearbeitet und werden danach den kantonalen Behörden zur Verfügung gestellt. Die Daten kommen nun aber neu von einem anderen Modell. Und an dieses müssen sich die Meteorologinnen und Meteorologen erst gewöhnen. «Wir kennen die Limitationen des alten Modells. Jetzt geht es darum, dass wir das neue Modell und seine Grenzen besser kennenlernen», so Michel.

Anhand eines Beispiels zeigt er auf, inwiefern sich die beiden Modelle voneinander unterscheiden: Das Modell COSMO hat beispielsweise Hochnebel im Winter häufig übersehen. Diese Grenze des Modells musste Michel stets berücksichtigen und den Hochnebel aufgrund anderer Parameter wie das Vorhandensein einer Temperaturinversion in der Höhe einschätzen. Das neue Modell ICON dagegen übersieht Hochnebel kaum, dafür überschätzt es das Ausmass des Hochnebels oft. «Wir müssen im Alltag anders denken lernen», sagt Michel.

Zwar wird für verschiedene Parameter wie Niederschlag oder Wind automatisch analysiert, wie gut das neue Modell im Jahresdurchschnitt oder saisonbedingt abschneidet. Bei Warnmeldungen erstellt MeteoSchweiz ab einer gewissen Stufe nachträglich Fallanalysen, die ebenfalls aufzeigen, wie stark die Modellrechnungen von der Realität abweichen. «Doch all diese Analysen können nicht voraussagen, wo der Fehler in der Prognose von morgen ist», sagt Michel und fügt hinzu: «Vieles müssen wir aus Erfahrung lernen.»

Keine Revolution, aber Verbesserungen

In Tests hat ICON in praktisch allen relevanten Grössen zuverlässigere Wettervorhersagen als COSMO geliefert. Merken das die Meteorloginnen und Meteorlogen bereits? «Mein Eindruck ist, dass sich die Prognosen der beiden Modelle im Moment nicht wesentlich unterscheiden», sagt Michel. Aufgrund des Dreiecksgitters und der besseren Topografie könne der Föhn für bestimmte Täler besser eingeschätzt werden. Wie ICON bei der Vorhersage von extremen Wettersituationen abschneide, müsse sich aber noch zeigen, sagt Michel. Denn er und sein Team haben erst ein Jahr mit dem neuen Modell in der Testphase gearbeitet.

Michel weist zudem darauf hin, dass Wetterwarnungen immer ein Zusammenspiel aus Modellvorhersagen, sowie erfahrungsbasierten Einschätzungen der Meteorologinnen und Meteorologen sind. Statt einer Revolution in der Prognose sei vielmehr eine kleine, stetige Verbesserung über die Zeit hinweg anzunehmen, auch bedingt durch Anpassungen des Modells an die Schweizer Bedürfnisse.

Mit der Abschaltung von COSMO wird der Alltag in der Wetterzentrale gemäss Michel nun erst einmal einfacher: Weil die Meteorologinnen und Meteorlogen für ihre Einschätzungen nur noch die Rechnungen eines regionalen Modells herbeiziehen können.